Alex Baur: Meine Reise nach Fukushima!

Alex_1„Alex Baur gehört zu jener Sorte von Reportern, die möglichst alles mit den eigenen Augen und den eigenen Ohren aus erster Hand erfahren wollen. Ein Jahr lang bemühte er sich beim japanischen Stromriesen Tepco um eine Besuchsbewilligung für die Unfallreaktoren von Fukushima Daiichi. Nach unzähligen Mails und Telefonaten konnte er sich letzte Woche – als bisher einziger nicht in Japan stationierter Berichterstatter – zusammen mit siebzehn Berufskollegen vor Ort selber ein Bild machen. Noch nie zuvor wurden Journalisten so nahe an die Ruinen von Fukushima herangeführt.“

(Veröffentlicht mit der Einwilligung des Autors, Alex Baur! Zuerst erschienen: Die Weltwoche, Nummer 11 — 14. März 2013)

Da standen sie also, die famosen Dieselaggregate und Wasserpumpen. Vor zwei Jahren wurden die Maschinen, welche die Notkühlung des Kernkraftwerkes Fukushima Daiichi hätten sichern sollen, durch eine gewaltige Flutwelle zerstört. Das war der Anfang einer fatalen Pannenkette, die in einen nuklearen GAU mündete, wie man ihn bis dahin nur in theoretischen Szenarien durchgespielt hatte. Übriggeblieben ist ein Gewirr von rostigem Schrott, dazwischen Fahrzeuge, die von den Wassermassen zermalmt wurden, so, als wären sie aus Kaugummi. Es sind die letzten unmittelbaren Zeugen des verheerenden Tsunami auf dem Gelände von Fukushima Daiichi. Man hat sie vor Ort belassen, weil sie zurzeit niemanden stören und weil man dringendere Arbeiten zu erledigen hatte. Wir befinden uns auf einer schmalen Strasse zwischen dem Meer und den havarierten Reaktorblöcken, am Anfang einer sechsstündigen Tour durch das zerstörte AKW. Es ist ein sonniger Morgen, friedlich rauscht der Pazifik. Bei Reaktorblock 1 zeigt der Geigerzähler 172 Mikrosievert an, bei Block 3 schnellt die Anzeige auf 1710 Mikrosievert hoch. Es sind mit Abstand die höchsten Werte, die wir an diesem Tag messen. Allzu lange sollte man sich hier nicht aufhalten, eine akute Gefahr besteht allerdings nicht. Doch davon später. Es ist das erste Mal, dass Berichterstatter so nahe an die havarierten Reaktoren herangelassen werden. Wir bewegen uns in einer Gruppe von siebzehn Medienschaffenden, welche die Tokyo Electric Power Company (Tepco), die Betreiberin der Unfallreaktoren, im Hinblick auf den zweiten Jahrestag der Katastrophe durch die Anlagen führt. Tepco erklärt die restriktive Zulassung mit dem grossen organisatorischen Aufwand, der mit dem Ortstermin verbunden sei. Rund 3000 Leute sind hier seit zwei Jahren mit den Aufräumarbeiten beschäftigt. Anfänglich ging es vor allem darum, die Aussenanlagen von den verstrahlten Partikeln zu reinigen, die sich wie ein unsichtbarer, aber giftiger Schleier über das Gelände gelegt hatten. Diese Aufgabe war nach wenigen Wochen erledigt. Die Strahlung liegt heute an den meisten Orten auf einem Niveau, das keine Gefahr mehr für die Gesundheit darstellt. Beim zentralen Abklingbecken, das rund hundert Meter von den havarierten Meilern entfernt liegt, messen wir unbedenkliche 2,9 Mikrosievert. Das Wasser, durch das wir die ausgebrannten Brennstäbe aus wenigen Meter Entfernung betrachten, blockiert die Strahlung vollständig. Weisse Schutzanzüge aus reissfestem Papier, Atemschutzmasken und Gummihandschuhe sind hier trotzdem Pflicht. Es handelt sich dabei um eine Vorsichtsmassnahme. Strahlende Partikel, die der grossen Putzaktion entgangen sein könnten, sollen damit ferngehalten werden. Würden sie sich im Körper ablagern, könnten sie unsere Zellen über die Jahrzehnte schädigen. Ein halbes Dutzend Mal müssen wir während des Rundgangs unsere Handschuhe, Socken und Schuhüberzüge wechseln. Damit soll verhindert werden, dass allfällige strahlende Partikel innerhalb des Geländes verschleppt werden. Das sind alles hypothetische Gefahren, die mit vielen Wenn und Aber verknüpft sind. Die Botschaft ist unmissverständlich: Jedes Risiko, und sei es noch so gering, wird in Betracht gezogen und eliminiert. WW_14.03.2013

Sisyphusarbeit an den Unfallreaktoren

Die grösste Baustelle in Fukushima Daiichi befindet sich auf der Bergseite zwischen den havarierten Meilern und dem zentralen Abklingbecken. Anders als in Tschernobyl, wo man die Reaktor-Ruine einfach unter einen gigantischen Betonblock versenkte, soll die Anlage hier abgewrackt und fachgerecht entsorgt werden. Nach wie vor müssen die Reaktoren gekühlt werden. Die neuen Wasserpumpen befinden sich in erhöhter Lage, ausserhalb der Reichweite eines Tsunami. Der Rückbau der havarierten Reaktoren ist eine wahre Sisyphusarbeit. In einer ersten Phase sollen die intakt gebliebenen Brennelemente entfernt und ins zentrale Abklingbecken übergeführt werden. Zu diesem Zweck werden zurzeit die beschädigten Träger für die tonnenschweren Hebekrane über den Reaktoren und den Kühlbecken neu aufgebaut. Wo die Strahlenbelastung zu hoch ist, kommen Roboter zum Einsatz. Die geschmolzenen Reaktorkerne sollen zuletzt geborgen werden. Das dürfte der schwierigste Teil des Unterfangens sein. In diesem Punkt bleiben noch einige technische Fragen offen. Die Arbeit mit Schutzanzug und Atemmaske ist oft mühsam, vor allem im Hochsommer, wie uns der Bauleiter Hiroshige Kobayashi erklärt. Wenn es zu heiss wird, verlege man die Arbeiten im Freien auf die Morgen- und Abendschichten. Doch der Mensch gewöhne sich an fast alles. Die Furcht vor der Strahlung sei den meisten hier längst abhandengekommen, und das sei aus seiner Sicht das grösste Problem: Man müsse sich ständig überwinden, die Sicherheitsregeln einzuhalten. Geleitet werden die Arbeiten vom zentralen Kontrollraum aus, der die Havarie unbeschadet überstanden hat. Rund fünfzig Angestellte arbeiten hier vor ihren Bildschirmen. Die Stimmung ist entspannt. Vom obersten Chef bis zum Hilfsarbeiter tragen sie alle dasselbe blaue Tenue. Die allgemeine Gelassenheit, die auch draussen auf der Baustelle zu beobachten war, steht in einem eigentümlichen Kontrast zu den aufgeregten Berichten über das Desaster von Fukushima. Je weiter die Menschen von der Strahlenquelle entfernt sind, so scheint es, desto grösser ist die Angst.

Am grössten ist die atomare Panik mutmasslich auf der anderen Seite des Planeten, in Deutschland und in der Schweiz. Es sind weltweit die einzigen Länder, die als Reaktion auf Fukushima einen ernsthaften Ausstieg aus der Kernenergie verkündet haben. In Osteuropa, China, Indien, Frankreich und in den USA befinden sich neue Kernkraftwerke im Bau. Auch die japanische Regierung hatte einen langfristigen Ausstieg angekündigt, allerdings nur halbherzig. Vorübergehend wurden nach der Kernschmelze von Fukushima alle Kernreaktoren zur Kontrolle und Nachrüstung vom Netz genommen. Gut ein Viertel der Stromproduktion fiel damit weg. Um einen Blackout zu verhindern, wurden alte Kohleund Ölkraftwerke reaktiviert. Japan hat damit nicht nur den GAU, sondern auch den Atomausstieg in der Praxis durchexerziert – und kam ziemlich schnell wieder davon ab. Die liberal-konservative Regierung, die im letzten Dezember – übrigens auch in der Präfektur Fukushima – einen eigentlichen Erdrutschsieg verbuchen konnte, will vom Ausstieg nichts mehr wissen. Sie denkt auch nicht daran, die Arbeiten an zwei neuen Kernreaktoren zu stoppen, die sich zurzeit im Bau befinden. Dahinter steckt eine relativ simple Rechnung. Japan musste im letzten Jahr gemäss offiziellen Angaben wegen des Ausfalls der Kernenergie fossile Brennstoffe im Wert von rund dreissig Milliarden Dollar zusätzlich importieren. Erstmals seit den frühen 1980er Jahren verzeichnete das Land aus diesem Grund eine negative Leistungsbilanz.

Die Folgekosten des nuklearen Desasters werden auf umgerechnet rund sechzig Milliarden Franken geschätzt, was etwa einem Jahresumsatz von Tepco entspricht. Kompensationszahlungen machen rund die Hälfte der Schadenskosten aus, der Rest teilt sich je zur Hälfte auf in den Rückbau der Unfallreaktoren und die Entseuchung der Sperrzone. Hätte der Staat nicht mit Krediten in Milliardenhöhe ausgeholfen, wäre Tepco wohl in den Konkurs geschlittert. Vergleicht man die Kosten miteinander, stellt man allerdings schnell fest: Ein Ausstieg aus der Kernenergie würde die japanische Volkswirtschaft schon nach zwei bis drei Jahren teurer zu stehen kommen als der mehrfache nukleare GAU von Fukushima. Bei der Kernenergie fallen die Kosten für den Brennstoff kaum ins Gewicht. Das ist ein entscheidendes Argument für ein hochindustrialisiertes Land, das kaum über eigene Rohstoffe verfügt. Die wegen der zusätzlichen Brennstoffimporte um über zehn Prozent gestiegenen Strompreise machen der ohnehin angeschlagenen japanischen Wirtschaft zu schaffen, die, ähnlich wie in der Schweiz, rund zwei Drittel der Elektrizität verbraucht. Wind, Sonne oder Biomasse sind in Japan in Anbetracht der klimatischen Bedingungen, der Topografie und der knappen Landressourcen keine gangbaren Alternativen. Die Kernfrage lautet demnach: Sind die Folgen eines nuklearen GAUs derart gravierend, dass man sie auch als minimales Restrisiko nicht in Kauf nehmen darf? Zwei Jahre nach dem «grössten anzunehmenden Unfall» kann man erstmals anhand konkreter Fakten einigermassen abschätzen, womit schlimmstenfalls zu rechnen ist. Todesopfer oder Schwerverletzte, so viel steht fest, waren bislang keine zu beklagen. Gemäss einer kürzlich veröffentlichten Studie der WHO ist auch kaum mit gesundheitlichen Langzeitfolgen zu rechnen.

Verwirrende Strahlenmessung

Der Rückbau von Fukushima Daiichi wird voraussichtlich vierzig Jahre in Anspruch nehmen. Die grösste technische Herausforderung stellt zurzeit die Reinigung des verstrahlten Kühlwassers dar, das in Tanks zwischengelagert wurde. Die Arbeiter sind wohl einer erhöhten Strahlung ausgesetzt, doch diese bewegt sich im Rahmen der Grenzwerte. Die Luftverschmutzung in den Ballungszentren birgt, statistisch gesehen, grössere Gesundheitsrisiken in sich. Wie alle 700 Fahrzeuge, die das AKW-Gelände täglich verlassen, wird auch unser Bus bei der Ausgangsschleuse auf radioaktive Partikeln untersucht. Obwohl wir während mehrerer Stunden Alex_2durchs Gelände gefahren sind, finden sich keine verdächtigen Spuren. Nach Angaben von Tepco werden solche bei lediglich einem Prozent der Fahrzeuge gefunden. Diese werden in einer gesonderten Schleuse gereinigt. Mehr als einen Schrubber, einen Schlauch und Wasser braucht es dazu nicht. Bei der Ausgangspforte zeigt unser Geigerzähler 5 Mikrosievert. In Naraha, rund fünfzehn Kilometer von den Unfallreaktoren entfernt, sind es noch 1,3 Mikrosievert, was nur unwesentlich über dem Normalwert liegt. In den Tessiner Alpen ist die natürliche Strahlung an vielen Orten höher. Physikalisch gibt es keinen Unterschied zwischen der natürlichen Strahlung, die uns alle täglich umgibt, und der Strahlung eines AKW. Die Strahlenmessung ist eine komplexe Angelegenheit und führt immer wieder zu Verwirrung. Doch es gibt Werte, an denen man sich orientieren kann. Mein Dosimeter weist nach dem Besuch von Fukushima Daiichi eine Gesamtbelastung von 67 Mikrosievert aus. Zum Vergleich: Auf dem Flug von Zürich nach Tokio hat mein Körper 200 Mikrosievert bewältigt, bei einer Röntgenbestrahlung fällt die dreifache Dosis an. Die Hauptsorge in Fukushima gilt der Bevölkerung. In einem Radius von zwanzig Kilometern, den man vorübergehend auf dreissig Kilometer ausgeweitet hatte, wurden ursprünglich 113 000 Menschen evakuiert. Gegen 50 000 dürften mittlerweile zurückgekehrt sein, genauere Zahlen sind nicht bekannt. Die Strahlung verteilt sich ungleichmässig. Einige Gebiete innerhalb der Sperrzone wurden bereits im letzten Jahr wieder freigegeben. Im Nordwesten, hauptsächlich im Bezirk Iitate, gibt es dagegen Landstriche ausserhalb der 20-Kilometer- Zone mit erhöhten Strahlenwerten. Tagsüber kann man hier frei zirkulieren, die Bewohner sind allerdings angehalten, nicht in ihren Häusern zu übernachten.

«Professor Mengele»

Für die dauerhafte Wiederbesiedlung der Sperrzonen wird eine Strahlenbelastung von weniger als 10 Millisievert pro Jahr angestrebt. Dieser Wert wurde in rund einem Drittel der evakuierten Gebiete mittlerweile unterschritten. Das liegt zum Teil am Regen, der die strahlenden Partikeln über die Flüsse ins Meer schwemmte, wo sie weiter verdünnt wurden. Eine grossflächige Dekontaminierung soll die Strahlung nochmals halbieren. An sich gilt in Japan eine Dosis von bis zu 20 Millisievert pro Jahr als unbedenklich für Kinder. Dies entspricht etwa der Strahlung, die bei einer Ganzkörper-Tomografie anfällt. Dass die Zielwerte tiefer angesetzt wurden, hat politische Gründe: Die Regierung will den Verdacht der Verharmlosung unter allen Umständen vermeiden. Wie viel Strahlung den Menschen zugemutet werden darf, ist allerdings umstritten. Professor Shunichi Yamashita, der die medizinische Versorgung der Evakuierten koordiniert, sorgte im Sommer 2011 für viel Aufregung, als er Dosen von bis zu 100 Millisievert pro Jahr für unbedenklich erklärte. Hätte man diesen Wert zum Mass genommen, hätten die meisten Evakuierten in ihre Heime zurückkehren können. Irrationale Ängste und Zwangsumsiedlungen, so erklärte Yamashita, seien eine viel grössere Bedrohung für die Gesundheit als die in Fukushima gemessene Strahlung. Yamashita, ein international anerkannter Strahlenmediziner, wurde in der Folge in den Medien als «Professor 100 Millisievert» verspottet und von Anti-AKW-Aktivisten gar als «Professor Mengele» beschimpft. Im letzten Februar wich er dem politischen Druck und gab seinen Rücktritt bekannt. Dabei gilt das, was er sagte, bei der Mehrheit der Strahlenmediziner als Binsenweisheit. Seine Aussage stützt sich auf den Befund der Tschernobyl- Kommission, eines Gremiums von hundert Wissenschaftlern aus aller Welt, das im Rahmen eines Uno-Programms die Folgen der Katastrophe in der Ukraine untersuchte. 2006 gelangte die Tschernobyl-Kommission zum Schluss, dass eine Zunahme von Krebserkrankungen oder Missbildungen bei Neugeborenen in der Ukraine statistisch nicht nachweisbar sei. Lediglich bei Schilddrüsenleiden, die aber selten einen tödlichen Verlauf nahmen, konnte eine signifikante Zunahme festgestellt werden. Vor allem aber wurden eine markante Häufung von Depressionen, Suiziden und Abtreibungen sowie eine Zunahme von Alkoholismus unter den Evakuierten registriert. Fazit: Die Zwangsumsiedlungen hatten in Tschernobyl mehr Leid angerichtet als die Strahlung. Die Aussage von Professor Yamashita, der nach dem nuklearen GAU selber nach Fukushima zügelte, war kein politisches Statement für die Kernenergie. Sein Fall steht jedoch sinnbildlich für die Verpolitisierung der Strahlenproblematik. Yamashita stammt aus Nagasaki, seine Mutter war eine sogenannte hibakusha, eine Überlebende der Atombombenabwürfe. Aus Aberglauben und Unwissen wurden die hibakusha wie Aussätzige gemieden, selbst als Nagasaki und Hiroshima wieder aufgebaut waren. Yamashita, der sein Leben der Medizin verschrieben hat und selber jahrelang in Tschernobyl geforscht hatte, wusste, wovon er sprach. Doch gegen die atomaren Vorurteile und Mythen hatte sein Wissen keine Chance.

Hiroshi Suzuki, ein emeritierter Professor für Architektur aus Fukushima, wirkt beim regionalen Komitee mit, das die Wiederbesiedlung der evakuierten Zone begleitet und koordiniert. Suzuki ist ein erklärter Gegner der Kernenergie, doch auch er glaubt, dass das Strahlenproblem in Fukushima «in erster Linie psychologischer Natur» sei. Rund dreissig Prozent der Evakuierten wollten in ihre Häuser zurückkehren, erklärt er im Gespräch mit der Weltwoche, doch ebenso viele verweigerten dies, rund vierzig Prozent seien unentschlossen. Suzuki setzt sich dafür ein, dass der Wunsch der Betroffenen respektiert wird – und dass die Entschädigungen in jedem Fall ausbezahlt werden, unbesehen, ob eine Rückkehr möglich wäre. Die Evakuierten erhalten von Tepco monatlich umgerechnet tausend Franken. Kompensiert werden auch wirtschaftliche Einbussen von Unternehmen. Eine abschliessende Schadensregelung steht allerdings noch aus. Hier sind gemäss Suzuki noch grössere Konflikte absehbar.

Einwandfreier Reis

Im Distrikt Minamisoma, der zu rund einem Drittel in der 20-Kilometer-Sperrzone liegt, treffen wir Yoshiaki Yokota. Bis März 2011 war er als Chefbeamter für die Kindergärten im Bezirk zuständig. Danach widmete er sich den Aufräumarbeiten in den vom Tsunami zerstörten Gebieten. Heute ist Yokota für die Dekontaminierung der Häuser von Minamisoma zuständig. Um ihn auf seine Aufgabe vorzubereiten, hatte ihn der Bürgermeister sogar auf eine Erkundungsreise nach Tschernobyl entsandt. Was er dort sah, überzeugte ihn freilich nicht. Die Japaner, meint er, wollten es gründlicher machen. Mittlerweile sind in Minamisoma mehrere Einsatzequipen mit der Dekontaminierung befasst. Dächer werden mit Hochdruckreinigern abgespritzt, Bäume und Hecken gestutzt, in den Gärten werden die obersten fünf Zentimeter Humus abgetragen. Die Praxis hat gemäss Yokota gezeigt, dass sich die meisten radioaktiven Partikeln – im Wesentlichen handelt es sich um Cäsium – in diesen Bereichen an Mineralien gebunden und festgesetzt haben. Das sei auch der Grund, warum das Cäsium nicht oder nur in einer ungefährlichen Konzentration ins Grundwasser gelange.

Die Dekontaminierung ist ein aufwendiger, aber im Grunde simpler Prozess. Viele Hausbesitzer sind auf eigene Faust zu Werke gegangen. Bei den Äckern reicht es gemäss Yokota oft, wenn sie gründlich umgepflügt werden. Versuche haben gezeigt, dass die meisten Pflanzen das Cäsium im Boden nicht aufnehmen. In Alex_Fukushima2.0Minamisoma wurde bereits letztes Jahr wieder Reis angepflanzt, der einwandfreie Messwerte aufwies. Das grösste Problem bestand darin, Standorte für die Zwischenlagerung des kontaminierten Abraums zu finden. Die Regierung hat versprochen, innerhalb der nächsten drei Jahre im unmittelbaren Umfeld von Fukushima Daiichi, das mutmasslich für lange Zeit gesperrt bleiben wird, Endlager einzurichten. Doch die Anwohner trauen den Versprechungen der Politiker nicht und befürchten, auf den Zwischenlagern vor ihrer Haustür sitzenzubleiben. In Minamisoma treffen wir auch Shigeru und Noriko Gorai. Im Frühling 2011 haben wir die Eheleute in einer Notunterkunft bei Fukushima kennengelernt, wo sie zusammen mit der Tochter Kaori sowie den Enkeln Yuta und Nagisa Unterschlupf gefunden hatten. Kaori ist mit den Kindern wieder in ihr Haus zurückgekehrt, das sich knapp ausserhalb der 20-Kilometer- Sperrzone befindet. Shigeru und seine Frau Noriko leben nach wie vor in einer provisorischen Unterkunft. Ihr Haus befindet sich innerhalb des Sperrgebiets, in Odaka, soll aber demnächst freigegeben werden. Die Geschichte der Familie Gorai erinnert uns daran, dass der Tsunami die ungleich grössere Tragödie war als der GAU. Wie fast jede Familie in dieser Gegend haben auch die Gorais in der Flut Angehörige und Freunde verloren. Das Elternhaus von Noriko wurde von den Wassermassen vernichtet und darf mutmasslich nie mehr wiederaufgebaut werden. Die Behörden haben das Gebiet nach dem Tsunami zur Gefahrenzone erklärt. Die Reisfelder der Gorais wurden überschwemmt und sind versalzen. Es werden wohl Jahre vergehen, bis sie wieder eine rentable Ernte abwerfen. Für die Grosseltern Gorai war immer klar, dass sie in ihre angestammte Heimat zurückkehren würden. In ihrem Alter brauchen sie sich keine Sorgen mehr über Langzeitfolgen der Strahlung zu machen, das wissen sie. Für die Tochter Kaori war der Entscheid schwieriger, wegen der Kinder. Sie misstraute den Unbedenklichkeitserklärungen der Regierung. Einige ihrer Freundinnen seien mit den Kindern weggezogen. Den Männern falle dies in der Regel schwerer, wegen der Arbeit. Denn die meisten Japaner bleiben ihrem Arbeitgeber ein Leben lang treu. Kaori erzählt von sechs Ehepaaren aus ihrem Umfeld, die sich aus diesem Grund getrennt hätten. Sie ist geblieben, ihrem Gatten zuliebe. Er arbeitet seit zwanzig Jahren in einem Kohlekraftwerk – für Tepco.

Mangelhafter Schutz gegen den Tsunami

Tepco ist mit ihren 10 000 Angestellten in der ländlichen Präfektur Fukushima die wichtigste Arbeitgeberin. Trotzdem ist kaum jemand gut zu sprechen auf den halbstaatlichen Stromriesen. Und das mit gutem Grund. Dass es ausgerechnet die Meiler von Fukushima Daiichi traf, ist kein Zufall. Die Sicherheitsmängel an den vier Kernreaktoren, die in den 1970er Jahren gebaut wurden und zu den ältesten im Land gehören, waren bekannt, wie die Untersuchungen mittlerweile gezeigt haben. Im Katastrophengebiet befinden sich insgesamt vierzehn Reaktorblöcke. Zehn davon, unter ihnen auch die neueren Blöcke 5 und 6 von Fukushima Daiichi, überstanden das Erdbeben – eines der schwersten seit Menschengedenken – und die Flutwelle ohne grössere Schäden. Beim AKW von Onagawa, das sich bedeutend näher beim Epizentrum des Bebens befindet, war der Tsunami sogar noch höher als in Fukushima. Aus Onagawa wird berichtet, dass 360 Überlebende der Flut auf dem Gelände des Kernkraftwerks vorübergehend Zuflucht gesucht und gefunden hätten. Die Hauptursache für das Desaster von Fukushima Daiichi war der mangelhafte Schutz gegen den Tsunami, der die Kühlwasserpumpen und sämtliche Notstromaggregate zerstörte. Nachdem die Kühlung ausgefallen war, kam es zur Kernschmelze. Die radioaktive Verseuchung der Umgebung wäre trotzdem zu verhindern gewesen, hätten die Meiler über sogenannt passive Wasserstoff-Rekombinatoren und Filteranlagen zur Entlastung der überhitzten Reaktoren verfügt, wie sie weltweit längst zum Standard gehörten. Der milliardenschwere Stromkonzern verzichtete darauf, die Reaktoren nachzurüsten, die ursprünglich ab 2011 sukzessive vom Netz genommen werden sollten. Gemäss Schätzungen von Fachleuten hätte der Einbau der fehlenden Aggregate rund zehn Millionen Dollar pro Reaktor gekostet.

 

 

21 Gedanken zu “Alex Baur: Meine Reise nach Fukushima!

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  3. Hervorragender Artikel, vielen Dank!

    Einen Kritikpunkt habe ich dennoch: An mehreren Stellen ist von »Millisievert« die Rede, wo offenbar »Millisievert pro Stunde« gemeint sind. Das ist der Unterschied zwischen Dosis und Dosisleistung, vergleichbar etwa mit dem Unterschied zwischen zurückgelegter Strecke und Geschwindigkeit.

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  5. 200 Mikrosieverts sind eine happige Dosis für einen rund 12-stündigen Flug. Bei genauerem Nachrechnen sorgt diese Zahl bei mir erst recht für Stirnrunzeln: Denn dies ergibt ein jährliche Dauerbelastung von 145 mSv*, was nach Wikipedia (http://de.wikipedia.org/wiki/Strahlenbelastung) mehr dem entspricht, was Astronauten in der Umlaufbahn vom 300 km über dem Erboden zu erdulden haben als bei einem Flug in 10 km Höhe (40mSv/Jahr; Quelle Wiki).

    Eine happige Abweichung die mich punkto Sachkundigkeit auch am Rest Ihrer Reportage zweifeln lässt.

    *Rechnung: 200 µSv / 12=16.6 µSv/h, x 8.76 (24h x 365 / 1000)= 145

    • Die Strahlenbelastung während eines Flugs nach Tokio ist stark abhängig vom Flugzeugtyp und der Konstruktion seiner Aussenhülle. Die aktuelle Stärke des solaren Magnetfeldes, das die Erde vor kosmischer Strahlung schützt, spielt ebenfalls eine grosse Rolle. So ist der Bereich des Cockpits wesentlich besser geschützt, weil die verschiedenen technischen Installationen einen verbesserten Strahlenschutz ergeben. Die Angaben in Sievert sind immer und überall eine rechnerische Annahme, weil der Belastungswert eine Kombination von Faktoren der Empfindlichkeit unterschiedlich empfindlicher Körperteile darstellt.
      Zum Zeitpunt des Fluges von Alex Baur nach Tokio und in den letzten Monaten generell, war dieses Magnetfeld äusserst schwach. Eine Strahlenbelastung in diesem Ausmass ist demnach schon möglich. Das heisst aber nicht, dass diese Belastung während des ganzen Jahres diesen Wert erreichen muss.

      Es ist auch eine unzulängliche Vereinfachung, den gesamten hervorragend recherchierten und fundierten Artikel von Alex Baur an der in diesem Zusammenhang angenommenen Strahlenbelastung von 200 Mikrosievert aufzuhängen. Die Aussage sollte sein: „Strahlenbelastung eines 12-stündigen Flugs höher als Belastung im havarierten KKW Fukushima Daiichi“ – und das entspricht der kompletten, nachweisbaren Wahrheit. Diese Tatsache darf man ruhig auf der Seite der Radiophobiker mal zu Kenntnis nehmen.

      Raumfahrzeuge sind im übrigen gegen kosmische Strahlung weitaus besser geschützt, als Passagierflugzeuge. Ein Vergleich ist technisch nicht möglich.

  6. Danke für den erfrischend unpopulistisch gehaltenen Artikel, welcher sich von der heutigen Berichterstattung wohluend abhebt (Wer schon mal in einer Atomkraft-Diskussion pro Atom argumentierte, weiß was ich meine….). Bei nüchterner Betrachtung des Themas stellt sich heraus, dass über die Auswirkungen der Strahlung keine gesicherten Erkenntnisse gibt/gab.
    Ein interessanter Artikel des „Spiegel“ aus dem Jahr 2007 (da konnte man die Zeitung noch lesen) zeigt ein neues, anderes Bild über diese Auswirkungen anhand der Erforschung des Atomunfalles in Majak (Sibirien) im Jahr 1957,

    http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-54002273.html

  7. Was die Kritik (Caesium etc.) anbelangt: Ich bin kein Strahlen- bzw. Kontaminationsfachmann, ich habe lediglich nach bestem Wissen und Gewissen das widergegeben, was mir die Spezialisten in Japan vor Ort erklärt haben. Und ich traue ihnen mehr als allen Theoretikern – weil ich davon ausgehe, dass jene, die direkt betroffen sind, sich am intensivsten mit den potentiellen oder auch erfundenen Gefahren auseiandergesetzt haben. Alex Baur

    • Ich bin da grundsätzlich vom Inhalt in vielen Bereichen mit dabei, aber bei 100mSv/a gehen bei mir als Strahlenschutzbeauftragter leicht die Nackenhaare hoch – in Anbedacht was ich meiner Familie zumuten würde. Berufliche freiwillige Exposition ja. Wobei ich natürlich zugeben muß, dass ich meine eigenen ‚Schmerzwerte‘ klar aus dem Atomgesetz und den Vorgaben des Bundesamtes für Strahlenschutz ableite, da bin ich jahrzehntelang konditioniert worden – und aus dem, was man so als Einwohner im Schwarzwald anhäuft – oder auch aus den Werten, die z.B. aus dem Gasteiner Heilstollen bekannt sind. Bekannt ist die akute Platznot in Japan, aber auch im Bereich des Risikos von Inkooperation hätte ich für die Zivilbevölkerung etwas länger vertröstet, bis sich die Cäsiumwerte von alleine reduziert hätten. Einen Koller bekommt man, wenn man die Lachwerte auf den digitalen Anzeigetafeln im TV sieht, die durchaus einem natürlichen Strahlungspegel entsprechen. Und einen Superkoller bekommt man, wenn man den Kommentar von Schwätzer Arno Evers weiter unten liest, in welchen er mal wieder darauf hinweisen will, dass sich die von einem Kernkraftwerk erzeugte Strahlung ganz ganz böse böse böse physikalisch von der natürlichen Strahlung unterscheidet. Denn natürlich ist ja was Gutes. In einem Punkt hat er aber physikalisch sogar recht, spielt aber kaum eine Bedeutung bei dem diskutierten Problem: Im Kraftwerk gibt es während des arbeitenden Reaktors im Reaktor natürlich noch jede Menge Neutronenstrahlung… sonst geht ja nichts….. . Toller Bericht, Danke!

      • Schon einmal was von der schönen Stadt Guarapari in Brasilien gehört?
        Dort ist laut Wikipedia die normale Strahlenbelastung 87 mSv/a die Rede (oder sogar 175 mSv pro Jahr im englischen Artikel)
        Die hohe Strahlung ist im Sand der Strände welcher reich an Uranium/Thorium ist (dies soll sogar gesundheitsfördernd sein. Nicht auszumalen, das muss ein Druckfehler sein und die Brasilianer täuschen sich…)

        Aber nichts desto trotz, was über 10mSv/a geht ist PÖSE!

        Man stelle sich vor, die ganzen Kinder welche am Strand Sandburgen bauen, sich einbuddeln oder den Sand sogar essen.

        Ich glaube wir müssen diese Stadt so schnell wie möglich evakuieren…

  8. OT

    Die Wahrheit scheint wenig erwünscht:

    Angesichts der flächendeckenden medialen Vertuschung des vor wenigen Tagen von einer Gruppe Türken ermordeten Daniel S. in Kirchwehye bei Bremen (ähnlich kürzlich Johnny K. in Berlin) darf man die sog. „führende Qualitätspresse“, in Deutschland ohnehin zunehmend kritischer sehen!

  9. Finde es auch zu positiv verfasst. Schon etwas verharmlosend der Artikel.
    Es wirkt als wurden einige Textpassagen von Tepco übernommen und nicht selbsständig hinterfragt/überprüft.

    z.B.
    „Das sei auch der Grund, warum das Cäsium nicht oder nur in einer ungefährlichen Konzentration ins Grundwasser gelange.“

    Wer sagt denn wieviel cäsium ein Organismus vertragen kann? Auf welche Untersuchungen stützt sich solch eine Aussage? Dazu kann es doch gar keine Aussagekräftigen Untersuchungen geben. Oder wer schluckt unter klinischen Bedingungen mal ein paar mikrogramm Cäsium über Jahre hinweg.

    „Versuche haben gezeigt, dass die meisten Pflanzen das Cäsium im Boden nicht aufnehmen.“
    – Aha. Und wer überwacht, dass die Bevölkerung nicht gearde die „falschen“ Pflanzen zur Ernährung anbaut?

    und zuletzt:
    „Bei den Äckern reicht es gemäss Yokota oft, wenn sie gründlich umgepflügt werden.“

    Merkwürdige Aussage. Wenn dem tatsächlich so ist, könnten wir sämtliches Cäsium ja einfach großflächig unter die Äcker deutscher Landwirte graben anstatt nach einem teuren Endlager zu suchen.

    Dennoch respekt für den Einsatz des Reporters.

  10. Danke fuer diesen Realbericht!

    Das zeigt uns einmal mehr, dass guter Journalismus leider zu selten geworden ist!

  11. OMG, immer noch viel zu positiv geschrieben.
    Gibt es denn keine gesunden Menschenverstand mehr?
    Der entscheidende Satz ist dieser:
    ZITAT: „…Physikalisch gibt es keinen Unterschied zwischen der natürlichen Strahlung, die uns alle täglich umgibt, und der Strahlung eines AKW….“
    ZITATENDE…
    Na denn, wenn das so ist, dann ist ja alles klar.
    Wieder kein Wort von der weltweit ungelösten End-Lagerung!
    Und guckt bitte hier, die gesamte Wertschöpfungskette
    bei der Umwandlung von Uran in Elektrizität.
    Ein Verbrechen an der Menschheit und an den uns nachfolgenden Generationen:
    http://www.hydrogenambassadors.com/background/stromerzeugung-mit-kernkraft.php

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