Sacha Wigdorovits: «Exklusivität ist ein Muss»

Wie geht man als Journalist am besten mit den Heerscharen von PR-Beratern in Firmen und Ämtern um? Und was erwartet die PR-Branche von den Medien? Eine Anleitung von Sacha Wigdorovits, früherer „Blick“-Chefredaktor und heute einer  der umtriebigsten Kommunikationsberater des Landes.

Atomstrom, Fifa, Sika, die Armee: Wer macht heute die Schlagzeilen, die PR-Berater oder doch noch die Journalisten?

Sacha Wigdorovits: Die Schlagzeilen machen natürlich immer noch die Journalisten. Aber ohne die Hilfe von Kommunikationsberatern hätten sie davon deutlich weniger. Und vor allem würden die Texte, die unterhalb der Schlagzeilen stehen, inhaltlich sehr oft viel dürftiger ausfallen.

Ohne Informationen kommen Journalisten nicht zu Geschichten. Die Informationen kommen vielfach von den Kommunikationsspezialisten. Geht es ohne sie überhaupt noch?

Nein, meistens nicht. Wenn man sich als Journalist mit komplexen und für Unternehmen heiklen Fragen auseinandersetzt, dann braucht man in der Regel die Hilfe der internen oder externen Kommunikationsspezialisten dieser Unternehmen. Weil sonst nämlich die CEOs dieser Firmen den Journalisten keine Auskunft geben – oder nicht auf die Art, wie es die Journalisten brauchen.

Wenn ein Journalist heute an ein Thema herangeht, was tut er als Erstes? Und als Zweites?

Die Frage ist nicht, was er als Erstes oder als Zweites tut, sondern was leider die meisten Journalisten heute als Drittes nicht tun. Das Erste und Zweite ist, dass sie bei einem kontroversen Thema Auskunftsperson A nach ihrer Meinung und Auskunftsperson B nach ihrer Gegenmeinung fragen. Und dabei lassen es neun von zehn Journalisten dann bewenden. Dabei wäre das Dritte mindestens so wichtig: Für ihre Leser, Zuhörer, Zuschauer und User versuchen herauszufinden, ob denn nun Auskunftsperson A oder Auskunftsperson B recht hat. Andersherum: Neun von zehn Journalisten sind eigentlich gar nicht mehr Journalisten, sondern bloss noch Kolporteure von Drittmeinungen.

In der Regel versuchen Journalisten schon, aus zwei Drittmeinungen so etwas wie eine Konklusion zu ziehen.

Nein. Ein konkretes Beispiel. Ich hatte etwa einen Fall, in dem es um ein mögliches Insidervergehen bei einem Kunden von uns ging. Ich erklärte dem Wirtschaftschef einer führenden Sonntagszeitung die Sache aus meiner Sicht. Er hörte zu und sagte mir dann: „Du, Wigdorovits, behauptest das, auf der Gegenseite behauptet PR-Mann Andy Bantel das Gegenteil. Wie soll ich wissen, wer von euch recht hat?“ Ich sagte: „Dann schreib doch einfach nichts, bevor du es nicht herausgefunden hast.“ Natürlich stand die Story am nächsten Tag trotzdem in der Zeitung. Das ist die Regel.

Gut informierte Medienkonsumenten können sich auch ohne Kommunikationsspezialisten ein Bild machen.

Nein. Angesichts der meist komplexen Zusammenhänge muss man als Journalist den Medienkonsumenten helfen. Sonst schafft man als Journalist für seine Abnehmer keinerlei Mehrwert gegenüber den Social-Media-Plattformen. Deshalb bezieht heute auch die Mehrheit vor allem der Jungen ihre Informationen nicht mehr von den klassischen Medien und von deren Webseiten, sondern von Twitter und Facebook. Und die Verleger weinen dann bittere Tränen und beklagen sich über den unbarmherzigen Strukturwandel in der Branche. Sie würden besser einschreiten und von den Redaktionen verlangen: „Jetzt macht mal gefälligst wieder richtigen Journalismus statt Kolportage!“

Muss man als PR-Spezialist auf die Journalisten zugehen? Oder kommen sie von selbst?

Es geschieht beides – je nach Fall.

 Kommen sie häufiger als früher?

Sicher ist, dass die wirklich guten Journalisten keine Berührungsängste zu PR-Beratern haben – wenn diese auch gut sind. Sie verfügen über genügend Selbstvertrauen und Fachkenntnis, um sich ein unabhängiges Urteil zuzutrauen. Wenn ein Journalist Angst hat, dass er sich von einem PR-Berater unabsichtlich instrumentalisieren lässt, dann ist das ein Zeichen von Schwäche. Dieser Journalist spürt offensichtlich, dass es ihm an Fachwissen oder auch an Unabhängigkeit mangelt, um die Aussagen des PR-Beraters kritisch zu hinterfragen und sich eine eigene Meinung zu bilden.

Was heisst „unabsichtlich instrumentalisieren“ zu lassen? Es geht in Ihrer Branche wohl eher um absichtliche Instrumentalisierungen.

Natürlich. Es gibt viele Fälle, in denen ein Journalist eine Story macht, von der er genau weiss, dass er damit dem PR-Berater, der sie ihm gesteckt hat, beziehungsweise dessen Auftraggeber einen Stein in den Garten wirft. Solange er diese Story macht, weil er der Meinung ist, dass sie für seine Leser oder User relevant ist und dass sie stimmt, ist das ja auch kein Problem. Die bedenklichsten Instrumentalisierungen passieren heute ohnehin nicht durch die PR-Berater, sondern durch die Journalisten selbst.

Unglaubwürdig. Das müsste heissen, dass Journalisten eigene Interessen vertreten.

So ist es. Der Konzernjournalismus ist heute ein riesiges Problem, viel grösser als früher. Wieder ein Beispiel eines eigenen Kunden, das die Regel beschreibt. Wir haben einen Kunden aus der Westschweiz, eine führende Online-Vermarktungsplattform, die eine riesige Community in der Romandie hat. Also eine spannende WirtschaftsErfolgsgeschichte mit einem sehr charismatischen Gründer und CEO an der Spitze: Pascal Meyer. Aber einen Journalisten von Tamedia oder Ringier dazu zu bringen, über ihn oder seine Firma zu schreiben, ist fast unmöglich, denn Tamedia und Ringier betreiben eigene Onlinemärkte. Das sind die Konkurrenten unseres Kunden. Ich befürchte, dass sich die Journalisten in vorauseilendem Gehorsam selbst dieses Korsett überstreifen.

Kann man Journalisten kaufen?

Als „Blick“-Chefredaktor hatte ich einen Fall, in dem ich einen Journalisten fristlos entlassen musste, weil er sich von der Pharma industrie für seine Artikel honorieren liess. Seit ich in der Kommunikation tätig bin, habe ich nur einen vergleichbaren Fall erlebt. Da liess sich ein sehr bekannter Journalist in einem Rechtsstreit um ein wertvolles Gemälde vom Privatdetektiv, der die Kläger vertrat, bezahlen. Als ich die Chefredaktoren der Publikationen, für die er schrieb, darüber informierte, haben sie sofort dafür gesorgt, dass er in Zukunft nicht mehr über den Fall berichtete.

Generell also ein gutes Zeugnis für die Branche.

Es gibt auch indirekte Käuflichkeit. Was immer häufiger vorkommt, das ist der Hinweis von Journalisten, dass sie leider keine Story bringen können, weil die betreffende Firma keine Anzeigen schalte.

VITA Sacha Wigdorovits_1

Sacha Wigdorovits war Redaktor beim „Tages-Anzeiger“, US-Korrespondent der „Sonntagszeitung“, Vize-Chefredaktor bei den „Luzerner Neusten Nachrichten“ und Chefredaktor des „Blicks“. 1997 wurde er nach internen Ringier-Konflikten abgesetzt. Er gründete dann die Kommunikationsagentur Contract Media. Unter anderem übernahm er die Projektleitung bei der Lancierung von „20 Minuten“ und war Verleger der Gratiszeitung „.ch“, die im Mai 2009 eingestellt wurde. Heutige Kunden seiner Firma sind beispielsweise Axpo, Tally Weijl, Hublot, Franke, Media Markt und Intersport.

Man hört oft, dass junge Journalisten, die im Internet sozialisiert wurden, weniger Berührungshemmungen mit PR haben.

Das ist nicht eine Generationen-, sondern eine Persönlichkeitsfrage. Starke Journalistenpersönlichkeiten, die sich unabhängiger fühlen, haben keine Berührungsängste. Das Problem der jungen Journalisten ist eher, dass sie eine falsche Werteskala haben. Für sie kommt Geschwindigkeit meist vor Wahrheit. Das ist verhängnisvoll.

Natürlich hat das Internet zu einer Tempoverschärfung im Journalismus geführt. Das muss nicht nachteilig sein.

Ich zweifle daran. Die Fixierung auf Geschwindigkeit untergräbt die Glaubwürdigkeit des Mediums und macht dieses längerfristig obsolet. Ich hatte beispielsweise einen Fall, da hat mich ein Redaktor des „Tages-Anzeigers“ angerufen, kurz vor sieben Uhr am Abend. Er wollte eine Stellungnahme zu einem Vorfall. Da ich davon noch nichts gehört hatte, erkundigte ich mich und rief zurück. Ich sagte, ich hätte mit einem Augenzeugen gesprochen, der bereit sei, mit dem Journalisten zu reden. Das könne er aber erst am nächsten Morgen tun. Ich sagte dem Journalisten, das spiele keine Rolle, denn er sei ja der Einzige, der von der Geschichte wisse. Der Redaktor erbat sich kurz Bedenkzeit. Dann rief er zurück und sagte mir: „Ich habe mit der Chefredaktion gesprochen, wir bringen die Story trotzdem schon in der morgigen Ausgabe, wir haben ja Ihr Statement.“ Ich wandte ein, mein Statement sei ja nur eine Zweithand-Aussage, denn ich sei ja nicht dabei gewesen. Da meinte er: „Das macht doch nichts.“

Glauben Journalisten heute leichter als zu Ihrer Zeit, was man ihnen sagt?

Je nachdem. Wenn sie etwas zu hören bekommen, das ihnen in die These ihrer Story passt, dann glauben sie es gerne. Das Problem ist, wenn die Aussagen oder Belege, die man ihnen präsentiert, ihrer These widersprechen: Das macht ihnen Bauchweh. Die Angst vor dem „Zu-Tode-Recherchieren“ einer Story ist heute weiter verbreitet als früher.

 Wo gibt es noch gute Journalisten?

Es gibt sie überall. Vereinzelt gibt es sie sogar beim „Tages-Anzeiger“, aber bei anderen Medien sind sie prozentual definitiv weiter verbreitet. Weil bei diesen Medien eine andere journalistische Kultur und andere journalistische Ansprüche herrschen: nämlich mehr Unvoreingenommenheit, mehr journalistischer Drive und mehr Bescheidenheit.

 Was haben Sie gegen den „Tages-Anzeiger“?

Gegen den „Tages-Anzeiger“ selber habe ich gar nichts, ich habe ja selber mehrere Jahre dort gearbeitet. Aber ich bin enttäuscht von der Redaktion. Denn proportional zu ihrer Grösse gibt es wohl keine andere Redaktion in der Schweiz, auf der sich so viele Schreibtischtäter verkriechen.

 Schreibtischtäter gab es immer schon, auf allen Redaktionen.

Ja, aber heute gibt es sie häufiger. Viele heutige Journalisten glauben, dass es ausreicht, kurz in den SMD hineinzuschauen und auf Google ein paar Stichworte einzugeben, um dann eine Story daraus zu basteln, über der der eigene Name steht. Solches Abschreiben und Wiederverwerten hat doch mit echtem Journalismus nichts zu tun. Wer die Realität und die Menschen beschreiben, analysieren und kommentieren will, der kommt nicht darum herum, sich in diese Realität hinein und zu den Menschen hin zu begeben. Schreibtischtätern müsste man ein Berufsverbot erteilen.

 Ist es Faulheit. Ist es Naivität?

Beides. Die Energiepolitik ist ein gutes Beispiel: Da gab es zu Beginn nur ganz wenige Journalisten, welche die Energiestrategie 2050 des Bundesrates kritisch hinterfragten, die meisten hingen Bundesrätin Doris Leuthard andächtig an den Lippen. Erst jetzt hat sich das langsam geändert. Hat die Naivität zugenommen? Ja, im Durchschnitt schon. Aber nicht weil die Journalisten naiver, sondern weil sie wegen den vielen elektronischen Medien und den digitalen Plattformen im Durchschnitt jünger geworden sind.

 Nun muss man Jugend ja nicht unbedingt mit Naivität gleichsetzen.

Wenn man jünger ist, dann ist man in der Regel naiver, das ist normal. Das war bei mir nicht anders. Vor ein paar Jahren hat mein Vater mir meine gesammelten Artikel aus früheren Jahren überreicht, die er säuberlich aufbewahrt hatte. Als ich da nachgelesen habe, was ich zum Beispiel kurz nach meinem Studium im „Landboten“ so alles in die Welt setzte, wie unglaublich naiv und wie gestelzt geschrieben meine Kommentare waren, da habe ich mich reichlich geschämt.

Kann man die jungen Journalisten heute besser manipulieren, wenn man es darauf anlegt? Oder lassen sie sich inzwischen gerne manipulieren?

Die Guten nicht. Zudem ist Manipulation keine langfristig erfolgreiche Kommunikationsstrategie: Sie fliegt früher oder später immer auf und wird damit zum Bumerang. Ausserdem sind Medien und Journalisten, die sich manipulieren lassen, für unsere Kunden wertlos, weil sie unglaubwürdig sind und man sie deshalb nicht ernst nimmt. Glaubwürdigkeit, nicht Geschwindigkeit ist das A und O der Überlebensstrategie der klassischen Medien – auch im digitalen Zeitalter. Nur sind den Managern der grossen Medienunternehmen ihre Medienprodukte ohnehin nicht mehr wichtig.

 Das ist eine ziemlich gewagte Behauptung.

Schauen Sie, wofür hat Christoph Tonini, der CEO von Tamedia, letztes Jahr sechs Millionen Franken bekommen? Sicher nicht für die Performance im Zeitungs- und Zeitschriftenbereich. Dort geht es seit Jahren kontinuierlich bergab – mit Ausnahme von „20 Minuten“. Dass Tonini trotz dem Negativtrend im angestammten Mediengeschäft sechs Millionen kassierte, zeigt doch, dass bei Tamedia in der Beurteilung des Managements gar nicht mehr die Medien ausschlaggebend sind.

Welches sind die besten Köder, auf die Journalisten heute anspringen? Exklusivität? Hintergrund?

Das hängt vom Medium ab. Aber Exklusivität ist in der Regel ein Muss.

Zunehmend wichtig sind auch Personen. Beispielsweise Firmenchefs oder Spitzenpolitiker als Lockvögel.

CEOs als Quelle sind sehr wichtig: Sie geben einem Thema zusätzliche Glaubwürdigkeit vor allem, wenn das Thema sehr komplex ist. Deshalb ist es auch so wichtig, dass sich die Firmenchefs auch dann, wenn es gut läuft, die Zeit nehmen für die Journalisten und diesen genügend Gelegenheit geben, sie kennenzulernen. Denn wer glaubt schon jemandem, den er nicht kennt? Das beruht übrigens auf Gegenseitigkeit: Es gilt auch für die Journalisten.

Haben Journalisten überhaupt noch eine Chance, mit einem CEO zu reden, ohne dass ein Pressesprecher oder PR-Spezialist das orchestriert?

Nein. In gut geführten Unternehmen kommt ein solches Gespräch nur zustande, nachdem die Journalisten dem Medienverantwortlichen erklärt haben, worum es geht und was sie wissen wollen.

Was raten Sie einem Kunden, wenn ihn ein Journalist auf dem Handy anruft?

Ich rate ihm, zu sagen, er sei gerade in einer Sitzung, der Journalist solle ihm doch die Nummer hinterlassen, auf der er erreichbar sei, er werde sich melden. Dann gibt der CEO die Nummer seinem Medienverantwortlichen weiter und der ruft den Journalisten zurück und macht mit ihm das weitere Vorgehen ab. Firmenchefs, die unvorbereitet einfach drauflosplappern, wenn sie ein Journalist anruft, handeln fahrlässig und unverantwortlich.

Was wollen die Journalisten primär? Wollen sie Sachinformationen oder wollen sie eine knackige Schlagzeile?

Sie wollen Sachinformationen, die eine knackige Schlagzeile ermöglichen.

Nun, da hat sich seit Ihren „Blick“-Zeiten nicht allzu viel verändert.

 Vielfach beobachte ich die gleichen Fehler, die wir früher auch gemacht haben – bloss kommen sie heute häufiger vor. Ins Kraut schiessen statt den Sachen auf den Grund gehen. Leute vorverurteilen. Arrogant und besserwisserisch sein. Sich dem Gruppendruck der Redaktion beugen statt eine eigenständige Auffassung vertreten. Nicht den Mut haben, neue Themen aufzugreifen, statt über die ausgelutschten Themen die 35. Fortsetzungsstory zu  schreiben. Die eigenen Medienkonsumenten für dumm verkaufen und sich damit selber als dumm abstempeln. Und der grösste Fehler von allen: nur immer Negativ-Storys.

Nun wissen wir alle, dass only bad news good news sind.  

 Dieser Grundsatz ist erwiesenermassen falsch. Das Magazin „Facts“ ist unter anderem an diesem Grundsatz zugrunde gegangen – zu Recht. Ich empfehle allen Journalisten, die es noch nicht gelesen haben, das Buch „Constructive News“ des dänischen Journalisten Ulrik Haagerup. Das ist eine extrem gescheite Analyse – und sie hat mit Schönfärberei nichts zu tun. Als „Blick“-Chefredaktor habe ich einmal mit Entsetzen realisiert, dass wir zehn Tage hintereinander nur Negativ-Storys auf der Front hatten. Dann bin ich hingegangen und habe die Verkaufszahlen am Kiosk analysiert: Nach dem dritten Tag gingen sie kontinuierlich hinunter. Es war eine Lehre fürs Leben. [PDF: Schweizer Journalist – Interview mit Sacha Wigdorovits]

Copyright: SCHWEIZER jOURNALIST #04-05/2016 – Text: KURT W. ZIMMERMANN

KURT W. ZIMMERMANN ist Chefredaktor des  „Schweizer Journalisten“. kurt-w.zimmermann

kurt.zimmermann@schweizer-journalist.ch

 

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